desorientiert, arm und zusammengeschlagen …

Auf dem Weg zum Discounter spricht mich ein Mann Ende Sechzig – Anfang 70 an. Er ist in abgetragener Kleidung unterwegs, desorientiert und hat ein blaues Band um den Hals mit einem Schlüssel und fragt mich: Wissen Sie, wo es hier eine Wohngruppe gibt? Ich kenne einige Wohngruppen für Jugendliche.

– Wohnen Sie in einer Wohngruppe? frage ich

– Ja. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus und möchte nach Hause. Zwei Monate Krankenhaus.

Er hat kein Gepäck bei sich.

– Und Sie wissen nicht, wo Sie hin müssen?

– Ja – genau. (Er reicht mir den Schlüssel mit dem blauen Band und einer Telefonnummer) Da steht die Strasse, wo ich wohne.

– Da steht eine Telefonnummer. Da kann ich anrufen und nachfragen, aber ich habe kein Handy dabei.

Panik in seinen Augen.

– Wir finden einen Weg, wie wir das herausbekommen. Ich helfe Ihnen.

Erleichterung. Um die Ecke biegt eine Frau mittleren Alters. Ich frage sie:

– Können Sie uns helfen. Ich habe gerade den Herrn kennengelernt. Er sucht seine Wohngruppe. Ich habe kein Handy dabei. Haben Sie eines dabei? Dann könnten Sie diese Nummer anrufen und nach der Anschrift fragen. 

Ich frage den Mann nach seinem Namen, den er mir sagt. Wir bekommen die Anschrift – keine hundert Meter entfernt um die Ecke. Wir machen uns auf den Weg.

– Da waren Sie  ganz schön lang im Krankenhaus. Sage ich.

– Ja. Bin von Jugendlichen zusammengeschlagen worden. War im Koma. 

Er zeigt mir seine Unterarme. An beiden Seiten sind riesige rote Flecken von der Handwurzel bis zum Ellenbogen, die ich auf den ersten Blick für Brandwunden gehalten hätte.

– Haben gegen Kopf getreten.

– Das ist schlimm, sage ich.

Wir unterhalten uns über den Frühling, denn auf weitere Details möchte ich nicht eingehen.

An der nächsten Ecke angekommen erkennt er das Haus. Es ist eine große Sozialeinrichtung, in der Menschen leben und versorgt werden, die im gängigen Medizinerjargon „austherapiert“ sind – neurologische Erkrankungen haben, die nicht zum Tod führen.

Nebenan wohnt eine kleine Gemeinschaft katholischer Ordensschwestern. Sie besuchen dort regelmäßig Bewohner, bringen Obst von der Tafel und Kuchen, „weil es das dort so wenig gibt“ haben sie mir vor längerer Zeit erzählt.

Der Mann sagt:“ Da hinten am Ende vom Zaun muss ich rein. Jetzt geht es allein.“ Er geht los, dreht sich auf der anderen Seite der Straße zu mir um, sagt nochmal seinen Vornamen und meint: „Vielleicht sieht man sich wieder“.

 

Tafeln an 964 Orten in Deutschland

Heute vor 30 Jahren – am 21. Februar 1993 – wurde die Berliner Tafel gegründet um Lebensmittel zu retten. Die geretteten Lebensmittel wurden sozialen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Später kamen dann die Ausgabestellen von „Laib und Seele“ dazu, wo Privatpersonen je nach Famileingröße Lebensmittel bekommen.

  • Die Berliner Tafel unterstützt derzeit 400 soziale Einrichtungen (Wohnheime, Obdachlosenunterkünfte, Frauenhäuser, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Drogenberatungs-stellen, Bahnhofsmission etc.) mit 92.000 Menschen/Monat = 1,1 Mio. Menschen in 2022 sowie
  • 47 reguläre und acht vorübergehende LAIB und SEELE-Ausgabestellen mit rund 750.000 Menschen im Jahr 2022 sowie
  • diverse Einrichtungen der Kältehilfe mit 10.000 bis 20.000 Menschen/Monat = ca. 90.000 Menschen von Oktober 2022 bis April 2023
  • Die Berliner Tafel verteilt rund 660 Tonnen Lebensmittel/Monat = knapp 8000 Tonnen/Jahr
  • Für die Berliner Tafel engagieren sich rund 2700 Menschen ehrenamtlich

Das Jubiläum hat die Abendschau des rbb zum Anlaß für einen kurzen Beitrag genommen unter dem Titel „Hilfe für die Armen„.

Inzwischen gibt es in Deutschland an 964 Orten Ausgabestellen der Tafel.

Zum Weiterlesen:
Wie … Ihr wollt unseren Müll (Interview in Schriftform)
Website der Berliner Tafel

 

xxx

Wovon leben Sie?

Frau Kaltmamsell, ein Urgestein der Bloggerszene fragt: Wovon leben Sie? Die Antworten kann man in den Kommentaren nachlesen. Sie stützen meine Vermutung, daß überwiegend Menschen bloggen, die der Mittelschicht angehören.

Heute am 20. Februar ist der Welttag für soziale Gerechtigkeit. Den nehme ich als Anlaß um zu schreiben, wie die Menschen, über die ich hier berichtet habe, finanziell über die Runden kommen. Sie sind nach unseren gesellschaftlichen Maßstäben in materieller Hinsicht arm.

Für diejenigen, die im System sind und Bürgergeld (früher Hartz IV) bekommen, sieht es seit 1. Januar 2023 so aus (der Betrag dahinter ist der Regelsatz von 2022)

Regelbedarf für Alleinstehende/ Alleinerziehende
(Regelbedarfsstufe 1)
502 € 449 €  
Volljährige Partner innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft
(Regelbedarfsstufe 2)
451 € 404 €  
Erwachsene Behinderte in stationären Einrichtungen
(Regelbedarfsstufe 3)
402 € 360 €  
RL unter 25-Jährige im Haushalt der Eltern / Strafregelleistung
für ohne Zustimmung ausgezogene U 25’er
(Regelbedarfsstufe 3)
402 € 360 €  
Kinder 14 bis 17 Jahre
(Regelbedarfsstufe 4)
420 € 376 €  
Kinder von 6 bis 13 Jahre
(Regelbedarfsstufe 5)
348 € 311 €  
Kinder 0 bis 5 Jahre
(Regelbedarfsstufe 6)
318 € 285 €

mehr Infos hier.

In Berlin hat sich seit Beginn des Kriegs in der Ukraine die Zahl der Menschen, die Lebensmittel über die Berliner Tafel beziehen von 40 000 auf 80 000 verdoppelt. Einige Tafel-Erfahrungen sind auch in diesem Blog und zwar hier.

Menschen, die im Anerkennungsverfahren als Asylberechtigte sind, erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und zwar etwa 70 Prozent von dem, was ein Bürgergeldempfänger bekommt. Dabei können – je nach Bundesland – Lebensmittel über Gutscheine verrechnet werden.

Ein erwachsener, alleinstehender Mensch erhält im Monat 367,00 Euro, Kinder je nach Alter erhalten zwischen 249 und 326 Euro. Mehr dazu  hier

Das bis jetzt Gesagte gilt für Menschen, die im System sind.

Illegalisiert lebende Menschen fallen da raus. Sie bekommen kein Geld und können auch nichts bei der Tafel oder in den meisten Kleiderkammern bekommen, denn dort wird ein „Bedürftigkeitsnachweis“ verlangt – also eine Bescheinigung über den Bezug von Bürgergeld oder anderen Transferleistungen.

Illegalisiert lebende Menschen arbeiten unter prekären Bedingungen – Einiges ist hier im Blog beschrieben – d.h. schwere körperliche Arbeit auf Baustellen, in Putzkolonnen, in der Gastronomie und im Umzugsgewerbe, beim Auf- und Abbau von Weihnachtsmärkten oder Jahrmärkten für einen Stundenlohn von vier oder fünf Euro.

Wenn sie ärztliche Hilfe benötigen sind sie auf Caritas, Malteser und ähnliche Organisationen angewiesen. Außerdem gibt es eine von vorwiegend jungen Menschen getragene Organisation, die für einzelne oder mehrere Nächte Schlafplätze vermittelt. Wer Näheres wissen will, sucht unter „Schlafplatzorga“ oder „Sleepingplaceorga“.

Wenn jemand jemand kennt, der inzwischen einen legalen Status hat, z.B. durch Heirat nach vier Jahren ein eigenständiges Aufenthaltsrecht – und der seine Dokumente „verleiht“, dann ist eine Verleihgebühr inder Höhe von einem Drittel des Verdienten üblich. 

Es gibt auch sehr kreative Formen, wo Illegalisierte andere Illegalisierte  übervorteilen. Eine Variante ist „Handel mit der Wartenummer„.

Wer illegalisiert lebt, kann kein Konto eröffnen. Die preisgünstigste Variante um Beträge bis zu fünfhundert Euro ins Herkunftsland zu überweisen liegt bei 22 (zweiundzwanzig) Euro, die auch erst erarbeitet werden müssen – wie beschrieben bei Stundenlöhnen zwischen vier und fünf Euro – mehr ist die große Ausnahme.

Und wer richtig viel für Illegalisierte tut ohne darüber groß zu reden ist das Katholische Forum Leben in der Illegalität,, das gerade eine Tagung zum Themenbereich „Zwangsprostitution und Menschenhandel“ ausgerichtet hat.

Was Armut mit uns macht …

… ist der Titel von einem 40minütigen Podcast aus der Reihe Rätsel des Unbewußten – Podcast zu Psychoanalyse und Psychotherapie. 

Was bedeutet es für die Psyche eines Menschen, arm zu sein? Wie wirken Erfahrungen von Armut und sozialer Ausgrenzung über Generationen hinweg nach, auch in Familien, denen der soziale Aufstieg gelungen ist? Warum sind Abstiegsängste so destruktiv und oftmals mit extremistischen politischen Einstellungen verbunden? Und: welchen Beitrag kann die Psychoanalyse leisten, damit sich Menschen aus dem Zirkel von Armut und sozialer Ausgrenzung befreien?

Den Podcast kann man hier anhören.

xxx

                 xxx

Kriegsfolgen

Er spricht perfekt russisch und gut ukrainisch, verfolgt Nachrichten in beiden Sprachen.  Heute erzählt er: Weißt Du, in Russland sie lassen Leute aus Gefängnis frei, die lange Strafe haben, wenn gehen sechs Monate in Krieg. dann Reststrafe weg. Gefängnisse sind voll. Essen für Leute kostet. Wirtschaft geht schlecht. Wollen Leute loshaben. Gefängnisleute sind nicht vorbereitet auf Krieg. Müssen ganz vorne hin. Werden als erste geschossen. Haben keine Erfahrung. Keine Chance sechs Monate überleben.

xxx

             xxx

xx

Unterkunft gefunden

Er kam zehn Tage vormittags zwischen neun und elf Uhr, hat sein Telefonat gemacht mit einem sozialen Träger, der eine neue Einrichtung für Obdachlose eröffnet hat, in der er sich für ein Zimmer bewirbt. Er soll sich jeden Tag melden und erfährt, ob etwas frei ist. Dann trank er seinen Kaffee, aß dann und wann etwas, duschte gelegentlich und fragte, ob er etwas zu essen mitnehmen könne. 

Nach einer Woche gab ich ihm zu bedenken, dass er gar nicht erreichbar sei, weil er kein Handy hat wegen der Strahlungen, die er vermeiden will. Was sollen die Leute vom sozialen Träger machen, wenn es tatsächlich einen freien Platz gäbe. Wenn er einfach mal drei Tage hingeht, sich mit seinem Anliegen zeigt und dadurch sein ernsthaftes Interesse deutlich wird, vermute ich, dass seine Chancen größer wären. Außerdem wäre er vor Ort, wenn jemand anderer seinen Platz nicht (weiter) in Anspruch genommen hätte.

Etwas Ähnliches hat ihm am gleichen Tag eine Mitarbeiterin am Telefon gesagt. Drei Tage später kam er dann vorbei: „Ich hab‘ jetzt dort einen Wohnplatz bekommen. Du brauchst morgens nicht mehr auf mich zu warten.“

Zum Weiterlesen:
So begann seine Geschichte

Angebot abgelehnt

Die Sie-ist-raus-Kollegin (vom Blogpost hier) hat mit zwei älteren Kolleginnen eine eigene Reinigungsfirma gegründet und ihn gefragt, ob er mitmacht.. Sie bekommen ab nächsten Monat den Auftrag in der Putzstelle und würden ihm das gleiche zahlen wie der jetzige Chef. Ich frage nach, wie das möglich ist. Der jetzige Chef behält pro Stunde 1,20 Euro von seinem Lohn ein.

Er hat sich über das Angebot des Frauen-Trios gefreut. Trotzdem hat er abgelehnt, denn auch wenn der jetzige Chef ein schwieriger Mensch ist, hat er ihm geholfen, und er fühlt sich zur Loyalität verpflichtet.

Bettplatz hochPREISig

Lange nicht gesehen. Zuletzt einige Zeit vor Beginn der Pandemie. Er ist wieder obdachlos, schläft im Park – unter einem Kastanienbaum in einem bürgerlichen Viertel.

„Kastanienbaum ist optimal. Kommt kein Regen durch. Und außerden, wenn du deine Notdurft draußen machen mußt, dann sind Kastanienblätter optimal. Ich sag’s dir nur, falls du auch mal draußen groß mußt. Hab einen guten Schlafsack. Tagsüber darf ich den in einem Cafe abgeben. Sonst wird er geklaut. Die geben mir auch heißes Wasser für meinen Kaffee.“

Pflanzlich natürlich. Er kennt sich aus mit Gesundheitsfragen, interessiert sich für Ethno-Botanik, Heilsteine und Vieles, was nicht Schulmedizin ist. Die lehnt er kategorisch ab. Er ist einer von den Stillen und Nachdenklichen. Wie es kommt, dass er wieder draußen lebt?

Im Winter hatte ich einen Bettplatz beim …“  Er nennt einen bundesweit renommierten Player im Bereich der sozialen Arbeit. „Von meiner Rente – du weißt ja – ich hab eine kleine Rente – mußte ich fünfhundertnoch-was Euro abgeben für den Bettplatz. Das Bezirksamt hat noch zweihundert nochwas Euro draufgelegt, weil den Hartz IV-Satz mußten sie mir lassen. Du brauchst aber nicht meinen, daß ich allein im Zimmer war . Ich war da mit einem anderen. Zu zweit in einem Zimmer bei den Preisen. Wie gesagt: Bettplatz heißt das jetzt. Und der andere hat fast rund um die Uhr ferngesehen – in einer Lautstärke. Das glaubst du nicht. Länger hätte ich das nicht ausgehalten. Sobald es ging, bin ich dann wieder raus. In der Unterkunft da haben die einen Sozialarbeiter und Security. Ich brauch keinen Sozialarbeiter. Ich brauch keine Security. Ich brauch nur einen Platz, wo ich meine Ruhe habe. Kann ich bei Dir vielleicht kalt duschen und eine halbe Stunde allein in der Küche sitzen. Wenn ich noch heißes Wasser für meinen Kaffee haben könnte – ich habe den dabei – das wäre toll“

Es ist das erste Mal, daß jemand ausdrücklich fragt, ob er KALT duschen darf. Und das an einem trüben und kühlen Tag. Muß mit den veränderten wirtschaftlichen Bedingungen wegen des Kriegs in der Ukraine zusammenhängen.

So ging es weiter für ihn

 

Gleich nebenan .. (16) – Tafelgärten in Sachsen

Immer häufiger ist die Klage zu hören, dass es immer schwieriger für die Tafeln wird, ihre Kunden zu versorgen. Durch den Krieg in der Ukraine kommen mehr Bedürftige und gleichzeitig sinkt das Spendenaufkommen, weil die Lebensmittelspenden zurückgehen. In Sachsen gibt es nun als Modellprojekt „Tafelgärten“, in denen Obst und Gemüse für die Tafeln angebaut wird – und zwar von Langzeitarbeitslosen, die dadurch einen Start in eine neue Erwerbstätigkeit bekommen sollen. Eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten. Der MDR berichtet darüber und zwar  hier .